CAS_Stage-Susan-Sontag-Sarajevo

Projekt Cassandra:
Literatur als Frühwarnsystem

 

Projekt Cassandra wurde ins Leben gerufen, um Literatur als Wissensressource ernst zu nehmen. Die Literatur ist das größte Archiv der Welt: ein einzigartiges Speichermedium menschlicher Erfahrungen. Sie ist sogar in der Lage, auch Unausgesprochenes darzustellen: Ob verborgene Befindlichkeiten von Individuen oder kollektive Gefühle und Mentalitäten – der Literatur gelingt es immer wieder, die wichtigen, aber oft schwer greifbaren Untiefen und Unterströmungen komplexer Gesellschaften in anschauliche Erzählungen und Bilder zu fassen.

Projektleiter Jürgen Wertheimer, Professor für Internationale Literatur, beschäftigt sich bereits seit den 1980er Jahren mit der Frage, wie sich gesellschaftliche Stimmungen und Gefühle in literarischen Texten niederschlagen – und wie umgekehrt auch literarische Texte in die Gesellschaft hineinwirken und bestimmte Entwicklungen verstärken können.

Drei Jahre lang erforschte Projekt Cassandra im Auftrag des Bundesministeriums der Verteidigung das prognostische Potential von Literatur in konfliktgefährdeten Regionen. Die Hypothese: Krisen und Konflikte zeichnen sich bereits Jahre vor ihrem gewaltvollen „Ausbruch“ in der Literatur ab. Den meisten Kriegen geht ein „Krieg der Wörter“ voraus. Projekt Cassandra hat es sich zur Aufgabe gemacht, anhand von Literatur- und Rezeptionsanalysen drohende Krisen und Konflikte bereits in ihrer Latenzphase zu erkennen. Literatur als Frühwarnsystem, um nicht von vermeintlich plötzlichen „Zeitenwenden“ überrascht zu werden.

Literatur und Resilienz:
Das Recht, nicht überrascht zu werden

Die Literatur spielt alle Möglichkeiten im Voraus durch – und kann uns dadurch erfahrener, widerstandsfähiger machen. In den Worten des israelischen Autors David Grossman: „Man wird weniger leicht zum Opfer.“

Es kommt darauf an, genau hinzuschauen: Je früher man eine Gefahr erkennt, desto größer ist der Handlungsspielraum, um ihr zu begegnen. Die genaue Lektüre literarischer Texte und die aufmerksame Beobachtung ihrer Rezeption ermöglichen es, gesellschaftliche Bruchzonen und Konfliktlinien frühzeitig zu erkennen.

Projekt Cassandra will KI und Big Data nicht aus der Welt schaffen – doch ihr Vorteil besteht darin, dass sie nicht nur auf Mustererkennung setzt, sondern sich auf die Wahrnehmung und Deutung komplexer Kontexte und Kommunikationstechniken spezialisiert hat. Mehrdeutigkeiten, Anspielungen, identitätsstiftende Bilder und Motive, Gratwanderungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die Aktivierung von kulturellen Erinnerungen und Affekten. All diese Dinge gehören in der Literatur praktisch zur Tagesordnung, spielen sich jedoch gewissermaßen unter der Oberfläche ab.

Literatur ist keine Hellseherei. Projekt Cassandra geht es nicht um die plane Vorhersage von Fakten und Ereignissen, sondern um das Aufzeigen von Potentialen. Es geht um ein „Etwas“, das einer Geschichte vielleicht sogar unbewusst eingeschrieben ist: zum Beispiel eine sich allmählich aufbauende Nervosität und Unsicherheit, soziale Spannungen und Irritationen, subkutane Gefühle der Bedrohung …

Aktivitäten

Projekt Cassandra strebt danach, sich mit möglichst vielen Schriftsteller*innen und Leser*innen auf der ganzen Welt zu verbinden. Die Vision: der Aufbau eines weltweiten Netzwerks von Kassandra-Stimmen, um möglichst früh auf sich anbahnende Krisen und Konflikte aufmerksam zu machen. Im Jahr 2019 war Projekt Cassandra Gründungsmitglied des „Parlament des Écrivains de la Mediterranée“ (PEM). Seit der Projektgründung ist Projekt Cassandra zudem regelmäßiger Teilnehmerin der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC). 

Projektteam

Prof. Dr. Jürgen Wertheimer – Universität Tübingen
Projektleitung & Kontakt
juergen.wertheimer@projekt-cassandra.net

Prof. Dr. Monika Wolting – Universität Wocław
Projektmitarbeiterin
monika.wolting@uwr.edu.pl

Florian Rogge – Universität Tübingen 
Projektmitarbeiter
florian.rogge@projekt-cassandra.net

Newsletter

Seit Anfang 2022 veröffentlicht Projekt Cassandra einen eigenen Newsletter, den Sie unter info@projekt-cassandra.net beziehen können.

 

Newsletter #5
Literatur zum Krieg in der Ukraine
Download Deutsch

Newsletter #4
Autonomie
Download Deutsch

Newsletter #3
Postheroische Gesellschaft und der Krieg
Download Deutsch

Newsletter #2
Cassandra-Stimmen zum Krieg gegen die Ukraine
Download Deutsch

Newsletter #1
Über das Cassandra-Projekt
Polen: Das Aufleben der Protestkultur
Die Situation an der polnisch- belarussischen Grenze
Appelle von Kulturschaffenden
Aktuelle Bücher
Download DeutschDownload English